Warum und Wozu?
von Mariya

Carl Spitzweg - Der arme Poet Wikipedia
Radikale Ehrlichkeit.
Ein Wort das von der Wellness-Instagram-Bubble fast so sehr ausgeleiert wurde wie Achtsamkeit und Work-Life-Balance. Was es aber genau bedeutet und wie man daraus einen Lebensentwurf macht, liest man selten.
Als mich Menschen fragten, was ich mit meinem Leben machen will, habe ich ihnen – abhängig von meiner Lebensphase – einen detaillierten Plan vorgestellt. Der hat alle Bereiche dessen abgedeckt, die ein guter Lebensplan haben sollte: Wie verdiene ich meine Brötchen, wo werde ich leben und welche Karriere strebe ich an. Viele Wege führen nach Rom, aber einen der Wege musst du nehmen. Doch neulich bin ich in eine heftige Auseinandersetzung mit meiner Therapeutin geraten. Dabei ist mein ordentlicher „Erwachsenenplan“ gegen das geprallt, was ich tatsächlich vorhabe zu machen. Therapeuten sind Menschen, die man schwerlich anlügen kann, sogar wenn man sich selbst noch nicht die Wahrheit eingestanden hat.
Ich will keine Karriere haben. Ich will nicht die klügste in jedem Raum sein.1 Ich will meine Eltern nicht stolz machen. Ich will nicht mein Leben damit zubringen, jeden Tag zu arbeiten, nur damit jemand anderes von meiner Mühe profitiert. Ich will mich auch nicht aufopfern wie eine osteuropäische Mutter Theresa, sei es für Bedürftige oder meine Kinder. Das sind alles Träume Anderer und ich habe zu viel Zeit meines Lebens damit zugebracht, andere glücklich zu machen. Ich will einfach sein. Also schrieb ich meiner Therapeutin folgendes: Ich möchte einfach einen Platz für mich in der Welt finden, wo ich sein kann, wer ich bin und dabei anderen vielleicht etwas Verständnis und Trost schenken. Und ich denke nur mit radikaler Ehrlichkeit kann ich mir den selbst schaffen – auch wenn es vielleicht schwierig werden könnte. Ich selbst sein zu dürfen ist die Voraussetzung für alles andere. Kaputt, komisch, bedürftig, zu klug, zu laut, zu viel.
Was für ein Ort das sein wird, weiß ich nicht. Ich weiß ja noch nicht, wer ich bin. Deshalb will ich aggressiv gegen Scham ankämpfen, meine und die der Anderen. Denn Scham und Erwartungen sind das, was uns in diesem ständigen Tanz hält, mit dem wir sogar die toxischsten Seiten der Gesellschaft produzieren und reproduzieren. Ähnlich wie die Weihnachtsfeiern, auf die wir jedes Jahr gehen, nur um dieselben dummen Sprüche von irgendeinem Onkel Jürgen oder Werner oder Hanswurst zu hören und einander nutzloses Zeug zuzuschieben. Wir gehen dahin, weil es unsere Gesellschaft stabilisiert, die Erwartungen erfüllt und uns damit Sicherheit gibt.2
Da ich nicht besonders gut bauen kann werde ich mir diesen Ort erschreiben. Ich schreibe, was ich bin und was ich denke und was ich fühle und zeige es der Welt. Keinesfalls glaube ich, dass diese Dinge mehr als eine Handvoll Menschen interessieren könnte. Die Intention ist vielmehr, diejenigen, die Anstoß daran finden, zu verschrecken und diejenigen, die genauso fühlen, zu trösten.3 Wenn ich davon Brot kaufen und mein Netflix-Abo bezahlen kann, umso besser. Wenn nicht, mache ich es trotzdem.
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Das habe ich bei einer meiner ersten Sitzungen bei ihr gesagt. Nach zwei Jahren habe ich dann rausgefunden, dass ich das nie wollte, sondern Erziehung und ein instabiler Selbstwert mich das glauben lassen haben. ↩︎
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Dazu mehr im Buch von Jan Phillip Reemtsma, „Vertrauen und Gewalt“, vor allem Teil 1, Kapitel 5: „Vertrauen und Wir-Konstruktion“ ↩︎
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Etwas ähnliches schrieb Laurie Penny in der Einleitung zu Bitch Doctrine: „I place as much importance on comforting the afflicted as I do on afflicting the comfortable, and doing the former with any success tends to achieve the latter.“ ↩︎