Im Kontext vom Krieg
von Mariya

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Rotkohl. Lichtschalter. Vorhänge.
Das sind nur einige der Gründe, weshalb ich in der letzten Woche meinen Partner angemault habe. Man kann wohl sagen, ich bin gestresst. Ich bin gestresst, weil Krieg in der Ukraine ist. Weil ich mir Sorgen um meinen Vater in Kiew mache, um meine anderen Angehörigen, um den Frieden in Europa und um die Zukunft. Doch warum bin ich so wütend? Das hat mich dann auch, wenig überraschend, mein etwas perplexer Partner gefragt.
Seit Beginn des Krieges haben meine Coping-Strategien einen kaleidoskopischen Wandel durchlebt. Ich bin vom Aktionismus der ersten Tage zu überfordertem Stillstand gegangen, danach zur Depression, danach zur Verdrängung. Die aktuelle Etappe ist etwas anders, irgendwo zwischen Leugnung, Wut und Entsetzen. Ich versuche, trotz allem, was passiert, meinen Alltag weiterzuführen und es gelingt mir manchmal so gut, dass ich mich dafür schäme. Immer wieder kommt eine Strophe von Brecht in Erinnerung:
„Was sind das für Zeiten, wo
ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“
Nun habe ich auch ein Begriff für die moderne Version dieser dialektischen Empörung gefunden: attention collapse. Berit Glanz schrieb in ihrem Newsletter über diesen Begriff, welcher aus einem anderen Newsletter stammt, folgendes:
„Wir fühlen uns unwohl, weil unterschiedliche Inhalte unterschiedlicher Form von Aufmerksamkeit bedürfen. Die meisten von uns wollen nicht ein Katzenbaby bewundern, oder Produkte anschauen und direkt danach katastrophale Kriegsbilder sehen, aber so funktionieren die Timelines der sozialen Medien, weswegen sie aktuell bei vielen Menschen für unangenehme Gefühle sorgen. Daisy Alioto nennt dieses Phänomen im Dirt-Newsletter attention collapse“
Alioto leitet diesen Begriff von dem Konzept des „context collapse“ ab. Unsere vielfältigen und bedeutungsvollen sozialen Kontexte prallen in den sozialen Medien aufeinander. Das, was unsere Freunde sehen, sehen auch unsere Kollegen, unsere Eltern, alte Bekannte. Dabei sind die wenigsten von uns bereit, alle Informationen mit allen gleichermaßen zu teilen. Während dieses Modell vom context collapse noch davon ausgeht, dass Beiträge mein ein bestimmtes Publikum erreichen wollen, weist Alioto darauf hin, dass eine neue Ressource die Art des Beitrags bestimmt: Aufmerksamkeit. Sie ist eine begrenzte Ressource, begrenzt durch Zeit und Energie, und gerade stark umkämpft. Von H&M & Tinder, über Jule und Onkel Peter bis Greenpeace und Amnesty – alle greifen nach jedem von uns. Alioto schreibt dazu: „Attention collapse is when content meant to capture one type of attention captures another type instead.“ Und obgleich mehrere Informationen nebeneinander existieren dürfen, verdienen sie nicht alle denselben Raum, dieselbe Zeit, dieselbe Aufmerksamkeit. Doch das Internet ist ein egalitärer Ort, zumindest theoretisch. Jede_r hat dasselbe recht darauf, den minimalen digital Raum in Form eines Social Media Accounts einzunehmen und diesen Raum so gestalten wie er_sie will. An den seltsamen Überschneidungen von Waffelrezepten und Waffenhandel-Debatten merken wir: Social Media sollte nie ein Nachrichtenportal sein.
Doch zurück zu meiner kurzen Zündschnur. Was hat meine übermäßige Wut über zu viel Rotkohl mit der medialen Darstellung von Krieg zu tun? Die Antwort ist so banal wie erhellend: gar nichts. Während ich versuche, die ständige Ungewissheit damit zu bewältigen, dass ich meine Wohnung sauber halte, geht mein Partner einkaufen und holt zu viel Rotkohl. Während gefühlt eine andauernde Explosion in meiner Heimat stattfindet und eine Nachricht schlimmer als die nächste ist, lässt er überall das Licht an. Gerade die Tatsache, dass seine Aufmerksamkeit nicht jederzeit bei dem Krieg ist, macht mich so wütend. Und auch beschämt, denn meine ist es auch nicht. Trotz unbewusst gesteuerten Putzzwangs erfreue ich mich an dem Frühling, lächle der Sonne entgegen. Das, was die Erfahrung vom attention collapse im Internet und das Unbehagen des Alltäglichen verbindet, ist also gerade die Tatsache, dass sie nebeneinander existieren können, dass business-as-usual wirklich möglich ist. Und obwohl das Internet zurzeit ein unangenehmer Ort sein kann, finde ich auch hier schnell Trost. Zum Beispiel in Memes, die diesen scheinbaren Widerspruch einfangen:
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Wir alle müssen in Zeiten von Krisen weiter funktionieren. Es gibt mir Trost zu wissen, dass auch die Menschen, die fliehen mussten und alles verloren haben, ihre Wäsche aufhängen müssen. Und vielleicht ist das ja auch ok. So banal das auch klingen mag, vielleicht sind unsere Routinen und die triviale Normalität des Alltags keine Scheuklappen gegen das Grauen der Zeit, kein Schweigen über die Untaten. Und vielleicht ist über Bäume zu reden manchmal einfach wichtig, um bei Verstand zu bleiben.