Not & Langeweile

Hunger und Vergessen

von Mariya

Als ich noch in der Ukraine zur Schule gegangen bin, haben wir jedes Jahr ein recht kitschiges Fest gefeiert. Es wurde eine bedrückende Theateraufführung von den älteren Schüler_innen vorbereitet, bei der nationale Trachten und eigenartige Kuchen dabei waren. Für mich war das so normal, dass es einfach zum Schulalltag gehörte, genauso wie morgens die Nationalhymne zu singen, schlecht in Mathe zu sein und im Hof zu spielen. Ich wusste natürlich, worum es da ging. Aber bis ich Anfang 20 war und mehrere Jahre in Deutschland gelebt habe, hatte ich das Ganze vergessen – so wie der Rest der Welt wohl auch.

Was dort gefeiert oder vielmehr (wie ich jetzt weiß) betrauert wurde, war der sog. Holodomor: ein Völkermord an den Ukrainern durch das stalinistische Russland. Bei Völkermord denken viele von uns an Gaskammern, Waffen, gestreifte Pyjamas. Und ja, es gab so viele andere Genozide, an so vielen verschiedenen Völkern. Wir können uns ja kaum die Deutschen merken – oder haben viele schon von dem deutschen Völkermord an den Herero und Nama gehört? Aber wie wäre es, wenn man einem ganzen Land, dem größten Land Europas wohlgemerkt, einfach nach und nach das Essen wegnimmt?

Holodomor, auf Ukrainisch Голодомор, bedeutet „Tod durch Verhungern“. Der Hunger dauerte von 1932 bis 1933; kurz darauf brach der Zweite Weltkrieg aus, von dem auch die Ukraine nicht verschont blieb. Doch wenn man glaubt, dass ein Jahr ja nicht so schlimm gewesen sein kann: Es sind mind. 3,5 Millionen Menschen gestorben. Dabei mag man sich das Schicksal derer, die überlebt haben, gar nicht vorstellen: Als das Essen immer knapper wurde, haben sie Blätter von den Bäumen gegessen, ihre Hunde, Katzen, Aas und schließlich auch einander. In einem Jahr kann ganz schön viel schiefgehen.

Der 28.11. ist der offizielle Gedenktag, an dem man eine Kerze für die Verstorbenen anzünden soll. Manche Menschen fasten zu der Zeit, um das Leid ihrer Vorfahren zu ehren. Indes möchte Russland nicht darüber sprechen. Jahrelang leugnete Russland den Holodomor, ließ Bücher und Filme darüber nicht im eigenen Land zu. Hier wirkt dieselbe Taktik des Schweigens wie schon 2014: Einige mögen sich noch daran erinnern, dass auf die Frage hin, warum russische Truppen in der Nähe der ukrainischen Grenze positioniert waren, Putin antwortete „Sie machen dort Urlaub“. Diese Urlauber stammen aus demselben Märchenland wie der demokratische Volksentscheid auf der Krim und die selbst organisierten Separatisten im Donbass.

Seit der sog. Orangen Revolution 2004 rückte der Holodomor immer mehr ins Bewusstsein der Ukrainer_innen und ist immer noch eins der wichtigsten antirussischen und proeuropäischen Narrative. Dabei fällt dem jetzigen Präsidenten Zelensky seine ehemalige Karriere als Comedian mächtig auf die Füße: Er hat sich noch vor einigen Jahren über den Gedenktag lustig gemacht und ihn als „Senor Holodomor“ bezeichnet. Der ehemalige Präsident Poroschenko dagegen verglich die russische Aggression im Jahr 2014 mit der Hungersnot, da sie beide „nicht erklärte Kriege“ seien. An der Lage hat sich seit seiner Amtszeit nichts verändert. Es wütet seit über einem Jahr ein grausamer Vernichtungskrieg, der droht auf die Nachbarländer überzuschwappen. 1

22 Länder haben den Holodomor als Genozid anerkannt. EU und Deutschland gesellten sich erst Dezember 2022 dazu, fast ein Jahr nach Ausbruch des Krieges. Dabei gibt es überwältigende historische Beweise für die Einstufung als Völkermord. Sogar der Erfinder des Wortes „Genozid“, Raphael Lemkin, hat in einem Artikel erklärt, warum der Holodomor ein klassisches Beispiel für einen Völkermord war. Dabei kommt man nicht umhin, die imperialistische Rhetorik der damaligen UdSSR und des jetzigen Russlands zu vergleichen: Es wurde und wird viel von „einer Nation“ gesprochen, die historisch und kulturell zusammengehöre und zu Solidarität aufgerufen sei. Lemkin beschreibt eindrücklich das Schicksal, gegen welches sich die Ukraine immer wieder wehren musste: „[…] (D)ie sowjetische Einheit ist nicht durch eine Vereinigung der Ideen und Kulturen geschaffen worden, sondern durch komplette Zerstörung aller Kulturen und aller Ideen für eine einzige – die der Sowjets.“

In der Ukraine ist die Leugnung des Holodomor strafbar, ähnlich wie in Deutschland die des Holocaust. Der entscheidende Unterschied ist nur, dass Deutschland „der Täter“ war & ihre eigenen Verbrechen nicht dem Vergessen anheimfallen lassen möchte. Im Osten ist das Verhältnis umgekehrt: Gedenktage, Bücher, Bilder, Aufführungen und Denkmale erinnern in der Ukraine jedes Jahr an die Grausamkeit des stalinistischen Regimes, während Russland dazu schweigt und Putin die Aufarbeitung zum Tabu macht.

Wie groß der Einfluss dieses einen Hunger-Jahres auf das kulturelle Gedächtnis der Ukraine war, spiegelt sich auch in meiner eignen Geschichte wider: Meine Oma erzählte mir vom Hunger in der UdSSR, in der man einen ganzen Tag Schlange gestanden hat, um ein paar Orangen zu ergattern. Meine Mutter erzählte mir vom armutsbedingten Hunger, den wir erlebt haben, als ich noch ganz klein war. Und in der Schule wurden wir jedes Jahr daran erinnert, wie schnell die Selbstverständlichkeit vom „Essen haben“ ausgelöscht werden kann. Und obwohl ich nur die ersten 11 Jahre meines Lebens in der Ukraine verbracht habe, haben sich die Bilder tief in mein Gedächtnis gebohrt: Der Anblick eines leeren Kühlschranks macht mich nervös und meine Zuneigung drücke ich grundsätzlich mit Essen aus. Dabei wissen so viele meiner Freunde nichts davon und blicken ganz betreten drein, während sie zugeben, dass sie noch nie etwas von diesem Genozid gehört haben. Warum sollten sie auch? Für den Rest der Welt sind solche Dinge einfach zu vergessen. Doch mir steckt der Hunger in den Knochen.



  1. Dieser Artikel wurde am 04.04.2023 zuletzt aktualisiert und um den Krieg sowie die deutsche Anerkennung des Holodomor als Genozid ergänzt. ↩︎